Im ersten Jahr seines Schweden-Aufenthaltes war Herbert Wehner nicht nur
publizistisch aktiv. Er führte eine Untersuchung gegen den dortigen Führer
des KPD-Exils Karl Mewis und war gleichzeitig mit dem Aufbau einer
neuen
KPD-Leitung in Deutschland beschäftigt. Nach dem deutschen Überfall auf die
Sowjetunion übernahm er die Führung der deutschen Kommunisten in Schweden. Im
krassen Gegensatz zu dieser Führungsposition stand das fehlende Vertrauen der
Sowjets zu ihm. In der Tat widersprach Wehners Politik auf mehreren Ebenen
jener Moskaus. Seine im Dimitroffschen Sinne nationalkommunistischen
Vorstellungen ließen ihn Handlangerdienste für die UdSSR konsequent ablehnen.
Unter diesen Umständen kann es kaum verwundern, dass er es nicht vermochte,
Mewis, der das Vertrauen des sowjetischen Geheimdienstes besaß, wegen
fehlerhafter Politik abzulösen. Es scheint unter diesem Blickwinkel auch nahe
liegend, dass die kurz vor der geplanten Abreise nach Deutschland erfolgte
Verhaftung Wehners auf eine gezielte Indiskretion oder Denunziation
zurückging. Diese Frage konnte aber nicht zweifelsfrei geklärt werden.
Eindeutig kann hingegen der Verratsvorwurf zurückgewiesen werden. Wehners
Aussagebereitschaft in Schweden verfolgte zunächst das Ziel, Klarheit über
seine Identität zu schaffen. Dafür musste er viele konkrete Angaben über
Personen machen, die ihn identifizieren konnten. Nach der Erhebung der
Anklage wegen Spionage für eine fremde Macht versuchte er, seine Arbeit im
Rahmen der KPD als rein nationalen Widerstandskampf für eine von Moskau
unabhängige Partei darzustellen. Dafür war ein tiefer Einblick in die
Arbeitsweise und die — nun nicht mehr realisierbaren — Pläne für den weiteren
Kampf zum Sturz der Hitlerregierung und für die Beendigung des Krieges
notwendig. Hinter diesen Aussagen verbarg sich eine Strategie, die auf den
Schutz der Exilorganisation der KPD ausgerichtet war.
Wehner, dessen
Parteiausschluss 1942 weder ihm noch der KPD-Emigration bekannt war, hatte
sich in der Internierung auch aus kommunistischer Sicht untadelig benommen.
Er trat offen als Kommunist auf und unterhielt mit den deutschen Kommunisten
im Internierungslager freundschaftliche Beziehungen. Als ihm die Möglichkeit
gegeben war, nahm er Kontakt zum Vertrauensanwalt der Kommunisten, Georg
Branting, auf. Das gewünschte Gespräch kam aber nicht zustande. Nach einem
Gnadengesuch wurde Wehner 1944 Arbeit in der Industriestadt
Borås zugewiesen.
Sein inzwischen weiter gewachsenes Misstrauen gegen Karl Mewis ließ ihn auf
Distanz zur KPD-Emigration gehen. Davon unbeschadet blieb seine umfangreiche
Korrespondenz mit befreundeten deutschen und schwedischen Kommunisten. Wehner
nahm an KPD-Veranstaltungen in Borås teil und diskutierte mit Kommunisten.
Als sich im September 1944 eine Gelegenheit bot, einen Rapport über das
Treiben der KPD-Emigration unter Mewis' Führung an Wilhelm Pieck zu schicken,
nutzte Wehner sie. Noch im März 1945 bemühte sich Wehner um eine Klärung
seiner Angelegenheit im Rahmen der kommunistischen Bewegung. Mewis, der sich
inzwischen sogar mit der schwedischen Sicherheitspolizei arrangiert hatte,
gelang aber noch vor Kriegsende die vollständige Isolierung seines
Widersachers. Bei der Verbreitung des Verratsvorwurfs gegen Wehner verbuchte
er auf der KPD-Konferenz der Exilgruppe zu Ostern 1945 einen ersten Erfolg.
Als sich nach der Rückkehr der Emigranten zur Jahreswende 1945/46
herausstellte, dass Wehner schon 1942 aus der KPD ausgeschlossen worden war,
brach sich der Verratsvorwurf endgültig Bahn. Zur Verschleierung eigener
Fehler kam ein "Verräter Wehner" nicht nur Mewis und Richard Stahlmann recht.
Für Anton Plenikowski war es zum Beispiel von Vorteil, wenn dunkle Punkte
seiner Vergangenheit nicht weiter überprüft würden, sondern seine lange
Isolierung von der Partei auf das Wirken des "Agenten Wagner", eines engen
Wehner-Vertrauten, zurückgeführt werden konnte. Viele früher von Wehner arg
Gerügte hatten nur auf die Stunde der Vergeltung gewartet; mehr oder weniger
aktiv trugen sie seit ihrer Rückkehr zu seiner Brandmarkung als Verräter bei.
Dazu gehörten Sepp Miller, Paul Peschke, Paul Verner und ganz besonders Franz
Dahlem, Schwiegervater von Mewis und nun SED-Kaderchef. Zweifler am Verrat
wurden ignoriert oder systematisch verfolgt.
Wehner sollte erst neun Monate
nach Mewis die Möglichkeit zur Rückkehr nach Deutschland erhalten. Zweifel am
Kommunismus Stalins waren ihm bereits in Moskau gekommen. Doch schon sein
Beitritt zur KPD war traumatisch geprägt: Auf keinen Fall wollte er in die
Isolation geraten oder abseits stehen. Das hinderte ihn nach 1942 auch an
einer Trennung von der kommunistischen Bewegung. Dabei mag die Verantwortung
für Lotte Treuber, die ja nicht freiwillig in Moskau geblieben war, eine
Rolle gespielt haben. Aber wohin hätte Wehner sich auch wenden können?
Bestärkt durch Kommunisten wie Kurt Adam und vor allem Willy Langrock, die in
Opposition zur KPD-Exilleitung standen und zum Teil ähnliche Schicksale
erdulden mussten, glaubte sich Wehner frei in seiner Entscheidung für oder
gegen die KPD.
Da der Bruch intellektuell schon um 1942/43 erfolgt war, fand
Wehner nun schnell Zugang zu sozialistischen und sozialdemokratischen Ideen.
Mit Hilfe seines Freundes Josef Wagner, der inzwischen Funktionen in der
deutschen Sozialdemokratie übernommen hatte, kam er kurz nach seiner Ankunft
in Deutschland zur SPD, wo eine große Karriere auf ihn wartete.
Wehners Freunden und Verehrern ist es immer schwer gefallen, seine komplexe
Persönlichkeit richtig einzuschätzen. Das betrifft auch und gerade seine
Abkehr vom Kommunismus, die vielfach schematisch in die Zeit seiner Haft in
Schweden datiert wird. Doch noch 1946 war sich Wehner seiner Sache nicht
völlig sicher. Vielleicht hat Helmut Schmidt, der Wehner 1946 in Hamburg
traf, dessen durch tiefe Brüche charakterisierte Persönlichkeit am ehesten
verstanden. Zu den Motiven von Wehners Wandel schrieb Schmidt in seinem
Nachruf für Die Zeit: "Zunächst vielleicht, weil ihn seine äußere
Lebenssituation dazu gezwungen hat; dann aber, weil er
Demokratie erlebt und
gelernt hat.
Bild: Bundesarchiv 175-Z02-00866 /
CC-BY-SA 3.0
Leben und Werk
1923 Beitritt zur Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) und der Roten Hilfe
Deutschland (RHD) 1927 Eintritt in die KPD 1931 Sekretär des
KP-Vorsitzenden Ernst Thälmann 1933 Illegalität 1937 auf Befehl der
Parteiführung ging Wehner nach Moskau 1941 Reorganisation der
Untergrundarbeit der Partei in Deutschland 1942 wegen Spionage in
Stockholm vor Gericht gestellt 1944 Arbeiter in einer Viskosefabrik in
Schweden 1946 zurück nach Hamburg und Eintritt in die SPD 1949
Erfolgreiche Kandidatur für den Deutschen Bundestag 1949-1966
Vorsitzender des Ausschusses für gesamtdeutsche Fragen 1950 Deutscher
Berater in Kriegsgefangenenfragen bei der Generalversammlung der UNO 1952
Teilnehmer der Sitzung der Kriegsgefangenenkommission der UNO in Genf
1966-1969 Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen 1969-1983 Vorsitzender
der SPD-Bundestagsfraktion 1984 Ehrendoktorwürde der Universität
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