Raoul
Gustav Wallenberg wurde am 4. August 1912 in Kappsta bei Stockholm in eine der reichsten Familien Schwedens
hineingeboren: Die Onkel Marcus und Jacob waren die Präsidenten der Svenska
Enskilda Banken AB. Darum war eine internationale Ausbildung vorgezeichnet: Er
lernte mehrere Sprachen und studierte 1931-1935 Architektur an der University of
Michigan. Einem fabelhaften Abschluss mit Auszeichnung folgten
Arbeitsaufenthalte als Angestellter diverser Firmen in Kapstadt und Haifa,
außerdem war er persönlicher Sekretär Jacob Wallenbergs bei Enskilda.
Der Weg nach Budapest
1942 und 1943 besucht er im
Rahmen einer Dienstreise erstmals Budapest, für die "Mellaneuropeiska Handels
AB" des ungarischen Juden Dr. Kålmån Lauer, dessen Partner er wurde - und
für den er Reisen in Länder übernimmt, in die Lauer aufgrund verschärfter
antisemitischer Gesetze nicht mehr einreisen darf. Anfang 1944 schließlich wird
das amerikanische "War Refugee Board" zur Rettung noch nicht deponierter
europäischer Juden und anderer Kriegsverfolgter gegründet und man sucht nach
einem für die Deutschen unbelasteten und dennoch repräsentativen
Bevollmächtigten, der in Ungarn diejenigen Personen ermitteln soll, die z.B.
durch Bestechung dazu gebracht werden könnten, Verfolgungsaktionen gegen Juden
zu mindern oder einzustellen. Wallenberg wird vorgeschlagen, er nimmt an - so
muss er nicht die Banklaufbahn einschlagen. Bereits Ende April 1944 bestätigt
Schweden die offizielle Legende Wallenbergs als Legationssekretär der
schwedischen Gesandtschaft in Budapest. Am 9. Juli 1944 erreicht er seinen neuen
Arbeitsplatz, Budapest. Doch welches Budapest fand er 1944 vor?
Ungarn 1944 - Die Budapester
Juden sind völlig apathisch und unternehmen absolut nichts, sich selbst zu
retten.
Als am 1. März 1920 Miklós
Horthy Reichsverweser Ungarns wird, werden erste antijüdische
Gesetze verabschiedet. Zwar ist der Antisemit Horthy Gegner der Judenvernichtung
im großen Stil, doch lässt er seit 1940 Juden zum Arbeitsdienst einziehen,
zumeist mit dem Ziel Russland. Den Erhalt seiner Regierungsmacht nach der
Besetzung am 19. März 1944 erkauft er sich mit der Zusage der Deportation von
Juden - mit deutschen Soldaten kommt schließlich auch Adolf Eichmann nach
Budapest. Als die in der Provinz begonnene Deportationswelle ab Juli die
überfüllten Viehwagen auch aus Budapest rollen lässt, interveniert Horthy - mit
Erfolg, die Deportationen werden eingestellt. Wallenberg spricht in seinen
Aufzeichnungen von ca. 333.333 Verschleppten bis 1. Juli. Inzwischen arbeitet Horthy im Geheimen ein Waffenstillstandsabkommen mit Moskau aus, das am 11.
Oktober unterzeichnet wird und u.a. beinhaltet, dass ungarische Truppen die
Frontlinie öffnen sollen. Mit der Verkündung vier Tage darauf im Radio, bricht
der von Deutschen gesteuerte Putsch der Pfeilkreuzler (ung.: Nyilaskeresztes)
unter der Führung von Ferenc Szålasi los. Szålasi wird
Ministerpräsident, hat aber nur noch das halbe Ungarn unter seiner Regierung -
die Rote Armee steht tief im Land. Die nun regierenden Pfeilkreuzler
bezeichneten sich als asemitisch und kopierten das deutsche Terrorsystem, indem
sie etwa bewaffnete Unterabteilungen entsprechend Gestapo, SA und SD einsetzten.
Eine neue Deportationswelle wird durch die Budapest einkesselnden sowjetischen
Truppen behindert, weswegen Juden vermehrt zum Arbeitsdienst eingezogen werden:
Zugesagt sind den Deutschen 100.000 Juden für den Arbeitsdienst, heutigen
Zahlen zufolge werden in diesen Tagen aber 150.000 Menschen zu Fuß von Ungarn an
die Grenze des Deutschen Reichs zum Bau des Ostwalls getrieben, 6.000 pro Tag.
Mit dem 23. November schließlich beginnen unorganisierte Erschießungen von Juden
am Donauufer, denen 15.000 bis 20.000 Menschen zum Opfer fallen und von der Imre Kertesz in seinem Roman eines Schicksallosen berichtet. Mitte Januar wird Pest,
einen Monat darauf Buda befreit, die Kampfhandlungen enden auf ungarischem
Gebiet Anfang April.
Budapester Wirken
Mit geliehenem Inventar und
zumeist jüdischen Mitarbeitern beginnt Wallenberg im Juli 1944 in Budapest,
später wird er mehrere Hundert beschäftigen. Sein Wirken kann auf zwei Felder
unterteilt werden: Hilfe durch Vermittlung der Lage nach außen und Hilfe durch
akutes Handeln vor Ort. Vermittlung nach außen: Insgesamt zehn Memoranden
bezüglich der Judenverfolgung in Ungarn schreibt er bis Mitte Dezember 1944 an
Schwedens Außenministerium. Darin berichtet er von menschenunwürdigen
Deportationen mit zahlreichen Toten, Strafaktionen an geflohenen Juden und von
massenhafter Ermordung deportierter Juden mit Ausnahme kräftiger, arbeitsfähiger
Männer und junger Mädchen. Auch nennt und lanciert er Themen, die in der Presse
berichtet werden sollten. Diese progressive Nutzung der Medien ist Teil seiner
erfolgreichen Diplomatie. Die Hilfe vor Ort wird primär verknüpft mit der
Verteilung von den mit dem Deutschen Reich vereinbarten 4.500 Schutzpässen und der
Errichtung von 33 Schutzhäusern, von denen jedes mit ca. 200 Personen belegt
war. Auch mit der Gründung zweier Krankenhäuser, der Einrichtung einer
Verwaltungsstruktur gegen den Terror der Willkür, und der Finanzierung von
Lebensmittelhilfen - vor allem aber immer wieder akute Rettung aus
Deportationszügen, Arbeitsdienst und Internierungslagern, oft durch
Interventionen bei Ministern, Behörden und in Lagern selbst.
Wallenbergs Schicksal
Die Beantwortung der seit Januar
1945 bestehenden Frage nach dem Verbleib Wallenbergs wird durch ein Wirrwarr aus
Fakten, Informationsdefiziten und bewusst gestreuten Falschinformationen
behindert. Belegt und von der
Forschung allgemein anerkannt ist: Wallenberg
begegnete am 13. Januar 1945 in Budapest erstmals einem sowjetischen Soldaten,
der ihn der Obhut von Oberstleutnant Dimitrijenkow von der Politischen Abteilung
übergab. Am 17. Januar fuhr dieser mit Wallenberg und dessen ungarischen
Chauffeur Vilmos Langfelder nach Debrecen zu Marschall Malinowski - ohne dort
anzugelangen. Dieses Datum ist der Tag des Verschwindens von Wallenberg und
Langfelder. Seit 1989, als einige persönliche Gegenstände und die Gefangenenkarte
Wallenbergs in einem KGB-Archiv aufgefunden und der Familie ausgehändigt
wurden, ist bewiesen, dass er am 19. Januar 1945 auf Befehl des
stellvertretenden Volkskommissars für Verteidigung durch die sowjetische
Spionageabwehr "SMERSCH" verhaftet wurde und am 6. Februar in die berüchtigte
Moskauer Lubjanka eingeliefert wurde. Belegt wird dies auch durch glaubhafte
Aussagen von Häftlingen, die Wallenberg dort getroffen haben. Den damaligen
Recherchen lagen diese vergleichsweise neuen Informationen je doch nicht vor,
die Sowjetunion verhinderte - noch vor der offiziellen Festnahme - die
Versendung von Telegrammen Wallenbergs und ließ die Spur des Diplomaten
verwischen. Anfang März sendet der sowjetisch-ungarische Radiosender "Kossuth"
die Meldung, dass Wallenberg nach dem 17. Januar wahrscheinlich von
Gestapo-Agenten in Budapest ermordet worden ist. Im Mai 1947 schreibt der
stellvertretende Außenminister der SU, Andrej Wyschinskij, an den
stellvertretenden Ministerpräsidenten Molotow:
"Da der Fall Wallenberg bis zum
heutigen Tage zu keinem Ergebnis gekommen ist, bitte ich Sie, General Abakumow
anzuweisen, eine Zusammenfassung der wesentlichen Details des Falles zusammen
mit Vorschlägen zu seiner Liquidierung vorzulegen". Damit kann jedoch auch die
diplomatische Liquidierung gemeint sein: der Abschluss des Vorgangs. Impliziert
ist nicht zwingend die physische Liquidation. Zumindest chronologisch nah aber
die Meldung des leitenden Gefängnisarztes Oberst A.L. Smoltsow am 17.07.1947:
"Ich melde, dass der Gefangene
Walenberg, der Ihnen wohlbekannt ist, heute Nacht plötzlich in seiner
Zelle verstarb, wahrscheinlich in Folge eines Myokardinfarkts. Infolge Ihrer
Anweisung, dass ich persönlich für Wallenbergs Gesundheit verantwortlich bin,
bitte ich um Anweisung, wer den Auftrag zur Obduktion erhalten soll, um die
Todesursache festzustellen." Und darunter: "Ich habe persönlich den Minister
davon in Kenntnis gesetzt. Es wurde befohlen, die Leiche ohne Obduktion zu
verbrennen. 17. Juli. Smoltsow."
Vorausgesetzt, dieser so
genannte "Smoltsow-Bericht" kann verifiziert werden, erklärt das sowjetische
Handeln: Am 18. August 1947 teilt Wyschinskij der schwedischen Regierung auf
mehrfache Anfragen mit: Wallenberg sei nicht in sowjetischem Gewahrsam, es
bleibt also zu vermuten, dass Wallenberg während der Kämpfe in der Stadt
Budapest ums Leben gekommen ist. An dieser Stelle zieht sich ein
Interpretationsschisma durch die Forschung:
Meinung A:
Wallenberg starb - nicht in
Folge von Infarkt, sondern vorsätzlicher Tötung - am 17. Juli 1947 in der
Lubjanka. Hierfür spricht, dass keine verifizierbaren Beweise für sein Leben
nach diesem Zeitpunkt recherchiert werden konnten - und ein mögliches Motiv:
Wallenberg als Agent mehrerer Seiten. Wurde er aufgrund eines abgelehnten
Anwerbungsversuchs von MGB/KGB für unnütz befunden und liquidiert? Dies wäre das
übliche Verfahren in einem solchen Fall. Es liegen Aussagen vor, dass er
zumindest mit dem CIA-Vorgänger OSS und dem KGB-Vorgänger MGB in Kontakt stand.
Ob dies aber im Rahmen seiner Tätigkeit geschah oder ob er wirklich für diese
Organisationen tätig war, ist nicht sicher unterscheidbar - Kontakt pflegte er
schließlich auch mit deutschen Diensten.
Meinung B:
Wallenberg starb nicht im Juli
1947, sondern lebte als anonymer Nummerngefangener weiter. Die Begründung dieser
These besteht aus mehreren Komponenten: Einerseits gab es zu dieser Zeit
Unregelmäßigkeiten in der Nummerierung der Gefangenen. Computerstudien der
Zellenverteilung über die fraglichen Jahre zeigen, dass in einigen
Isolationszellen unnummerierte bzw. falsch nummerierte Gefangene inhaftiert
waren. Die heutige russische Regierung muss aufzeigen, wer dort inhaftiert war,
die Chance besteht, dass Wallenberg nach 1947 unter einer dieser Nummern
verborgen wurde. Auch wurde er freigegebenen Protokollen zufolge selten
vernommen, andere ausländische Diplomaten hat man aber erst 1948 oder gar
1951/52 Verhören unterzogen - warum sollte eine Persönlichkeit mit derart
interessanten Kontakten ohne vorheriges "Abschöpfen" liquidiert werden? Für die
Notwendigkeit dieser Frage spricht das Memorandum "Methoden zur Entlarvung
ausländischer Agentennetze", das am 17. Juli 1947, Wallenbergs offiziellem
Todestag, Stalin vom Sicherheitsminister Viktor Abakumow zugestellt wurde.
Weiterhin existiert eine Vielzahl von Zeugenaussagen, dass Wallenberg nach Juli
1947 in diversen Gefängnissen gesehen wurde, besonders häufig in Wladimir, 180
km östlich von Moskau. Summiert man allerdings diese Aussagen, war Wallenberg in
nahezu jedem Gefängnis der Sowjetunion inhaftiert.
Es bleiben zahlreiche
ungeklärte Teilfragen, die jede für sich weitere Publikationen füllen könnte:
Warum verhielt sich die schwedische Regierung unter Außenminister Osten Unden
derart unengagiert gegenüber dem "Fall Wallenberg"? Unden war bereits 1957
bereit, den Tod Wallenbergs (ohne notwendige Falsifikationen wichtiger Aussagen
und Berichte) anzuerkennen, in den Jahren 1965-79 gab es gar keine
Untersuchungen von Seiten der schwedischen Regierung. Warum teilte der
schwedische Gesandte, Staffan Söderblom, Stalin 1946 persönlich mit, er glaube,
Wallenberg sei tot? Die persönliche Meinung eines Gesandten ist immer als
inoffizielle Regierungsmeinung zu verstehen. Was hatte Stalin für Gründe, ihm -
entgegen der Gepflogenheiten - eine Audienz zu gewähren? Noch dazu für die
geplante Dauer einer Stunde, und warum wird Söderblom nach seiner Äußerung und
nur fünf Minuten hinauskomplimentiert? Warum wurde die Möglichkeit eines
Austauschs mit enttarnten sowjetischen Agenten nicht verfolgt? Warum wollte die
sowjetische Regierung noch 1953 mit einem Schauprozess beweisen, dass Wallenberg
1947 von prominenten jüdischen Bürgern Budapests im Keller der amerikanischen
Botschaft erschossen wurde?
Unzweifelhaft ist eine Öffnung aller relevanten
Archive unabdingbarer Bestandteil der Lösung des "Falls Wallenberg". Besonders
angesprochen sind dabei russische Archive, doch gilt dies für alle beteiligten
Länder. Raoul Wallenberg wurde im Dezember 2000 von der Obersten
Staatsanwaltschaft der Russischen Förderation rehabilitiert, dies kann als
Zeichen der Bestrebung, einen Schlussstrich unter den "Fall Wallenberg" zu
ziehen, interpretiert werden. Dies darf nicht geschehen, solange die Möglichkeit
der Erlangung der entscheidenden Akten nicht endgültig negiert ist - wann sollte
dies sein?