Teil 2: Von Örebro nach Östersund
Also Radfahren macht Hunger und was für welchen. Seit Beginn dieser Tour
esse ich Mengen, die ich selber nicht fassen kann. Am frühen Nachmittag
erreiche ich Örebro. Auch Örebro empfängt mich bei Sonnenschein. In die
Stadt hineinzukommen war leicht - sie wieder zu verlassen, wurde ein
Trauma. Ich brauchte volle 3 Stunden. Jede schwedische Stadt hat ihre
Fahrradordnung. Dazu gehört, dass die Fernverkehrsstraßen oft wie hier zu
Stadtautobahnen erweitert wurden und für Fahrradfahrer gesperrt sind. So
20 - 30 km weiter sind sie dann wieder frei. Bis dahin gibt es Radwege, die
aber oft große Umwege machen und deren Endpunkt für den Unkundigen kaum zu
erkennen sind. Örebro zu verlassen, kostete wahrlich Zeit und Nerven.
Nach 20:00 Uhr erreiche ich doch noch mein Tagesziel, die Herberge in
Ervalla. Ratlos stehe ich aber vor verschlossener Tür. Per Handy rufe ich
die Verwalterfamilie. Ich werde freundlich hereingelassen und zahle 150,-
Kronen, etwa 16,- Euro. Es wäre weniger, aber ich habe keine schwedische
Jugendherbergskarte. Diese Karte erspart pro Person und Nacht 5,- Euro.
Auch bin ich der einzige Gast. Es ist halt noch Vorsaison.
Die Nacht in der Herberge war ok. Ich habe sehr gut geschlafen und plane
heute knapp 100 km. Das aber sollte sich als frommer Traum erweisen.
Bisher hat mich vom Nordwind abgesehen, das Wetter verwöhnt. Heute ist es
windig und bedenklich bewölkt. Es zieht da etwas herauf. Auf einem
Rastplatz geht dann der erste Platzregen meiner Fahrt herunter. Ich bin
vorbereitet. Regenüberzüge über alle Taschen und Regenkleidung für mich.
Alles in Berlin bei so einem Wetter ausprobiert. Nach 2 Stunden
vergeblichen Wartens fahre ich los und bin gut anderthalb Stunden und etwa
15 km weiter froh über ein Buswartehäuschen. Die Nässe zieht natürlich
überall rein und es ist kalt geworden. Es zeigt sich nicht die Spur einer
Hoffnung auf Besserung. In 18 km, so signalisierte ein Schild, soll ein
weiterer Rastplatz kommen. Das wäre so gegen 23:00 Uhr. Dort werde ich
mein Zelt aufbauen und erst mal schlafen.
19 Stunden Regen, in der Nacht war es schweinekalt. Ich kann nur schätzen
3, 4 höchstens 5 Grad. Aber mein Zelt hat dem Stand gehalten. Es war zwar
schwierig, es gestern in dem strömenden Regen aufzubauen, aber das Wetter
wird jetzt besser und ich fühl mich happy. Es wird Zeit für einen Kaffee
und ein richtig tolles Frühstück.
Meine Kondition lässt spürbar nach. Der Bauch ist schon fast weg - die
Strecke hat ihn aufgefressen. Das freut die eitle Seele, aber es gibt nun
keine Reserven mehr. Mein Motor stockert. Ich lege für mich fest: Heute
geht es in eine Jugendherberge und ab heute schlinge ich so viel Essen in
mich hinein, wie nur irgend möglich. Am späten Nachmittag erreiche ich die
Herberge, aber sie ist verschlossen. Kein Mensch zu sehen und auch das
Handy rettet mich diesmal nicht. Erster Öffnungstag ist erst in einer
Woche. Ich stammle mehrmals ein Wort mit 'Sch' und fahre dann weiter bis
Ludvika, der nächste ausgewiesene Campingplatz. Ich sollte das nicht
bereuen. Ein großer Platz mit Wiese und ein halber See für mich. Dazu eine
Bank - perfekt. Kocher an, und dann wächst ein sehr guter Erbseneintopf
mit ganz viel Schinken und Speck. Das muss mir helfen, morgen über die
Berge zu kommen.
Ich habe wunderbar in meiner Wolfskinnvilla geschlafen. Das Essen hat
spürbar gewirkt und ich habe bei dem herrlichen Wetter, fast ohne Wind,
richtig Lust zu fahren. Zunächst schaue ich mich aber ein wenig in
Ludvika um. Aber wie komme ich hier wieder heraus? Besser als in Örebro?
Radweg und Straße trennen sich auf jeden Fall wieder, aber sie sind sehr
gut ausgeschildert und der Radweg wird der schönste sein, den ich auf der
gesamten Fahrt kennen lerne. Im besten Zustand führt er über 40 km durch
eine wahre Traumlandschaft. So schön, wie dieser Tag war, so sollte er
auch enden. Gegen 20:00 erreiche ich die Wanderherberge Snoa bruk.
Naturbelassener kann so ein Objekt nicht gelegen sein. Auch hier bin ich
in dem großen Haus fast allein. In der Küche richte ich mir ein Essen für
6 Personen an und genieße es gegen 22:30 Uhr bei herrlichem Sonnenschein
auf meinem Zimmer.
Am nächsten Morgen trinke ich noch einen Kaffee mit Reiner, den ich am
Abend hier kennen gelernt hatte. Gegen 12:00 Uhr mache ich mich dann auf
die heutige Tagesetappe. Was hier und heute die größte Schwierigkeit
bedeutet, ist die Schmalheit der E 45. Wenn sich hier 2 LKW's begegnen,
dann ist kein Platz mehr für ein Fahrrad. Gut 20 km weiter wird die Straße
aber leerer. Diese wälzt sich in ständigem Wechsel von Anstieg und Abfahrt
über zahlreiche Gefälle. Endlich, an einem alten, verlassenen Bahnhaus
mache ich eine Rast und trinke dort fast mein ganzes Wasser aus. Immer
wieder suche ich in der Karte ergebnislos nach Alternativen zu dieser E
45. Am Abend erreiche ich dann
Mora. Telefonisch habe ich mich bei der
hiesigen Wanderherberge angemeldet. Mora hatte einiges Sehenswertes zu
bieten.
Am nächsten Tag geht es weiter Richtung Norden. Die Steigungen wurden so
stark, dass ich mein Fahrrad schieben musste. Immer wenn ich annahm, die
Steigung ist jetzt an der Bergspitze eingetroffen, da kam die nächste. Es
war der Horror. Ich habe geflucht. So sieht es aus, wenn ein Nichtsportler
glaubt, mal eben so einige tausend Kilometer durch Skandinavien zu radeln
und dabei einen Film zu drehen. Ich habe mich zuhause für eine
Nabenschaltung entschieden. Sieben Gänge, schön kompakt und in guter
Verarbeitung. Aber richtiges Herunterschalten geht damit nicht. Der
niedrigste ist eben der erste Gang. Auch am Tretlager herunter zu schalten
ist damit nicht möglich. Ich weiß diesen Fehler natürlich sehr bald, aber
es hilft nichts. Schieben oder nach hause - und die eigentlichen Fjälls,
die Berge, die das Wort wirklich verdienen, die kommen erst.
Sveg heißt mein nächstes Ziel. Aber mit mehr als 150 km ist es zu weit für
eine Tagestour. Ich war darauf vorbereitet, irgendwo im Wald zu campieren.
Dann aber, als überraschend ein Hinweis an der Straße kommt, habe ich doch
Lust, für einmal so eine Hütte für eine Nacht zu mieten. Ein Volltreffer,
wie sich zeigen sollte.
Am nächsten Morgen fahre ich noch mal 7 km und genieße die Ruhe vor, sagen
wir, dem Sturm, denn es geht jetzt wieder steil hoch. Dabei habe ich heute
ein besonders skurriles Problem. Vor Antritt dieser Reise habe ich mir ein
Paar Sportschuhe gekauft, mit fast 1 cm hohen Noppen darunter. Durch das
viele Schieben des Fahrrades am Straßenrand, durch den Kies der Straße,
der dort am Rand ist, sind die Noppen fast vollständig verschwunden. Ich
hoffe, dass diese Schuhe heute noch halten, denn bis nach Sveg, wo ich
hoffen darf, ein Schuhgeschäft zu finden, sind es noch 73 km.
Die nächsten 3 Tage sollten dann die schwersten der Tour werden. 3 Tage
Sturmböen aus Nord und Nordwest. Ich brauche endlos lange, um meine
Tagesziele zu erreichen. Selbst die Abfahrten von Bergen werden zur Qual,
weil dieser Wind mein voll gepacktes Fahrrad teilweise völlig
unbeherrschbar macht.
Diese Phase reicht von 50 km vor Sveg bis fast nach
Östersund. Ich sehe in diesen Tagen außer mir nur einmal 2 Jungen mit
einem Fahrrad. Regen und Hagelschauer begleiten diese Zeit. Wenn ich mir
auf dieser Radtour wirklich was anrechne, dann in dieser Zeit nicht
aufgegeben zu haben. Seit 3 Tagen kämpfe ich jetzt gegen Sturm und Regen
und heute sogar gegen Hagel an. Ich muss sagen, das nervt ungeheuer.
In der Ferne macht mich ein Motorsägengeräusch neugierig und ich finde
dessen Quelle. Es ist
Alf Andersson,
ein ungewöhnlicher Holzkünstler. Mit seiner Säge schafft er
eindrucksvolle, phantasiereiche Tierskulpturen. Ein 6 Meter hoher Elch, so
erzählt er, ist bisher sein größtes Werk. Ob er ein Künstler ist, frage
ich ihn: Ja, so ein bisschen schon - so die bescheidende Antwort.
© Wolfgang Haase
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