Schweden unterscheidet sich von anderen
Staaten zunächst durch seine hohe
ethnische und kulturelle Homogenität. Geographisch randständig und ohne eigene
Kolonien, haben Einwanderungen und Minderheiten historisch kaum eine Rolle
gespielt. Germanische Stammestraditionen kannten bereits Hilfe- und
Unterstützungsgebote auf nachbarschaftlicher und verwandtschaftlicher Basis, so
dass die vergleichsweise späte Christianisierung (11./12. Jh.) schon bestehende
Traditionen der Armenhilfe überformte. Die Reformation lutherischer Prägung
wurde unter dem ersten Wasa-König Gustav I. (1523-1560) im ganzen Lande
angenommen, und im Dreißigjährigen Krieg war Schweden unter
Gustav II. Adolf der
mächtigste Faktor der protestantischen Partei. Bis in jüngste Zeit hatte
Schweden eine evangelisch-lutherische Staatskirche, der 90 Prozent der
Bevölkerung nominell angehören. Der innenpolitische Einfluss der Religion war
und ist aber deutlich geringer als in Ländern mit konfessionellen
Auseinandersetzungen.
Ein für Schweden charakteristischer historischer Faktor
ist die starke Stellung eines freien Bauerntums. Die Bauern galten als eigener
Stand neben dem Adel, dem Klerus und den Städten und waren im bis auf 1435
zurückgehenden Reichstag vertreten, dem das alleinige Recht zustand, Steuern zu
bewilligen. Nach der Umwandlung des ständischen in einen durch Zensuswahl
konstituierten Reichstag (1866) entstand eine starke bäuerliche Partei. Mehr als
70% der Bevölkerung waren damals noch von der Landwirtschaft abhängig.
Skandinavische Forscher sehen in dieser starken Stellung des Bauerntums einen
entscheidenden Faktor für die Entstehung des volksweiten und nicht auf die
Industriearbeiter beschränkten skandinavischen Modells der
Wohlfahrtsstaatlichkeit.
Eine zentrale politische Konstante stellt ferner die
institutionelle Spannung zwischen Königtum und Ständen dar. Von alters her wurde
der Nachfolger eines Königs durch Wahl bestimmt - was die Sukzession innerhalb
eines Geschlechts keineswegs ausschloss. Die Machtverhältnisse verschoben sich
des Öfteren in der schwedischen Geschichte: Gustav II. Adolf und dessen
Nachfolger mussten ihre außenpolitischen Erfolge mit einer wachsenden
innenpolitischen Macht des Adels und des Kronrats bezahlen, die 1668 durch eine
Koalition zwischen dem König und den übrigen Ständen gebrochen wurde. Der
anschließende ‚aufgeklärte Absolutismus’ endete schon 1718 mit der Absetzung von
Karl XII. durch den Reichstag.
Von erheblicher Bedeutung war schließlich die
frühe Etablierung einer professionellen Staatsverwaltung unter den Wasa-Königen
als Voraussetzung der Machtentfaltung unter Gustav II. Adolf und dessen
bedeutendem Kanzler Oxenstierna. Die Staatsverwaltung lag lange Zeit vornehmlich
in den Händen des Adels; dessen Söhne sich auf diese Aufgaben schon um 1600
durch ein Universitätsstudium vorbereiteten Schweden kann somit mit Frankreich
als Pionier des kontinentaleuropäischen Typus eines Verfassungs- und
Verwaltungsstaats gelten. Bereits ab Ende des 18. Jahrhunderts existierte für
die Beamten eine geregelte Altersversorgung, die in der Folge zum (nie
erreichten) Maßstab des allgemeinen Alterssicherungssystems wurde.
Über eine aus
vier Akten bestehende schriftliche Verfassung verfügt Schweden seit 1809. Sie
sollte die Unzuträglichkeiten sowohl der ständeherrschaftlichen ‚Freiheitszeit’
(1720-1772) als auch der nachfolgenden Absolutismus vermeiden. Sie legte die
exekutive Macht in die Hände des Königs und des Kronrats, dessen Mitglieder
nunmehr den Status von durch den Reichstag abberufbaren Ministern erhielten. Die
exekutive Macht verschob sich sehr allmählich zum Kabinett, das erst seit dem
vollständigen Übergang zur Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg die effektive
Regierungsgewalt ausübt.
Erst die Verfassungsreformen zwischen 1968 und 1980
haben die staatsrechtliche Stellung des Königs auf repräsentative Aufgaben
reduziert und auch sonst die Verfassung modernisiert, indem die allmählich
entwickelte Praxis staatlichen Handelns modifiziert und festgeschrieben sowie
ein Katalog von Grundrechten aufgenommen wurde. Politisch folgenreich wurde der
Übergang vom Zweikammer- zum Einkammersystem im Reichstag (1970). Während seit
1866 die zweite Kammer als Volksvertretung fungierte, waren in der ersten Kammer
die regionalen Interessen vertreten. Dies führte bis zu den 1930er Jahren zu
einem überproportionalen Einfluss der Konservativen und der ländlichen
Interessen. In dem Maße jedoch, wie die Sozialdemokraten auf der lokalen Ebene
erfolgreich wurden, gewannen sie eine sichere Mehrheit in der ersten Kammer, die
wesentlich zur Dominanz sozialdemokratischer Politik zwischen 1932 und 1976
beigetragen hat. Durch die Abschaffung der ersten Kammer haben sich die Chancen
auf einen Politikwechsel als Folge wechselnder Reichstagsmehrheiten und damit
die Parteienkonkurrenz deutlich erhöht.
Charakteristisch für die schwedische
Entwicklung ist somit das weitgehende Fehlen von Verfassungskonflikten und damit
auch einer ‚liberalen Phase’ der Infragestellung staatlicher Allzuständigkeit.
Zum einen orientierte sich die Regierungsausübung in Schweden von alters her
vergleichsweise deutlich am Wohl des Landes; zum anderen erfolgte die
Liberalisierung sehr allmählich und ohne größere Widerstände. Bereits die
Verfassung von 1829 gewährleistete die Meinungs- und Pressefreiheit. So spielt
in Schweden, ähnlich wie in England, die Spannung zwischen Staat und
Gesellschaft kaum eine Rolle, allerdings aus gegensätzlichen Gründen: Während
sich in England die Staatlichkeit erst spät und im kontinentaleuropäischen Sinne
nur rudimentär entwickelte, wurde in Schweden die Staatlichkeit durch die
Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft nur wenig beschränkt. Eine Bewegung
zur Institutionalisierung liberaler Abwehrrechte gegenüber dem Staat kam nie in
Gang. Den meisten schwedischen Industriellen war der Manchesterliberalismus
ebenso ein Gräuel wie den Deutschen.
Die wesentlichen politischen Entwicklungen
vollzogen sich in Schweden vor dem vergleichsweise späten Einsetzen der
Industrialisierung. Beim Abschluss der Wirtschaftsliberalisierung und der
Umwandlung des Reichstags von einem ständischen zu einem auf Zensuswahlrecht
beruhenden Parlament in den 186oer Jahren war Schweden noch ein Agrarstaat. Die
Industrialisierung begann um 1870, setzte aber erst nach 1890 mit voller Wucht
ein. Das enge Zensuswahlrecht von 1866 wurde 1909 durch ein erweitertes
Wahlrecht der Männer für die Zweite Kammer ersetzt, und bis 1921 wurde das
allgemeine Wahlrecht auf beide Geschlechter und auf beide Kammern ausgedehnt. Es
gilt das Prinzip der stimmenproportionalen Repräsentation, das einem
parlamentarischen Mehrparteiensystem Vorschub leistet.
Die Kontrolle der
Regierung erfolgt nach dem Prinzip der ministeriellen Verantwortung gegenüber
dem Parlament, doch erstreckt sich diese ministerielle Verantwortung
grundsätzlich nicht auf die exekutive Tätigkeit der Verwaltung, welche in der
Form von 80 Reichsämtern gegliedert ist. Gegen Verwaltungsakte kann an
ausdifferenzierte Kontrollstrukturen der Verwaltung appelliert werden, ferner an
eine Verwaltungsgerichtsbarkeit. Angehörige des öffentlichen Dienstes in
verantwortlicher Stellung unterliegen weit reichenden strafrechtlichen, alle
überdies disziplinarrechtlichen Kontrollen: Sie können grundsätzlich für
verschuldete Schäden durch die Betroffenen auch haftungsrechtlich in Anspruch
genommen werden. Die Einschränkung der Verantwortlichkeit der Beamten (1976)
wurde zwischenzeitlich wieder zurückgenommen. Zwei Sonderadministrationen sind
zudem mit Aufgaben der Rechnungskontrolle sowie der Rationalisierung und
Effektivitätssteigerung der Verwaltung betraut. Die vergleichsweise
leistungsfähige, zuverlässige und von der Politik weitgehend unabhängige
Verwaltung kann als Kernstruktur der schwedischen Staatlichkeit gelten.
Im Falle
nicht direkt justitiabler Missstände sind mehrere ‚Ombudsmän’ zuständig: Die
Tätigkeit des Ombudsmanns umfasst von wenigen Ausnahmen abgesehen jede denkbare
Beziehung des einzelnen Bürgers zu seiner Obrigkeit. Überraschend ist die doch
recht niedrige Zahl der Beschwerdefälle. Gegenwärtig werden jährlich etwa 3500
Eingaben registriert, in 15 Prozent der Fälle werden Maßnahmen eingeleitet. Viel
mehr spricht für die These, dass die Existenzberechtigung des schwedischen
Ombudsmanns nicht in den obrigkeitsstaatlichen Übergriffen einer autoritären,
omnipotenten Verwaltung zu suchen ist, sondern dass vielmehr die Obrigkeit sich
weitgehend loyal gegenüber den Bürgern verhält — eben weil es u. a. den
Ombudsmann gibt. Die Institution wäre als Konsens schaffendes Element innerhalb
der schwedischen Politik und Gesellschaft zu interpretieren, sie spielt damit
einen nicht unerheblichen Part für den politischen Funktionalismus dieser
Gesellschaft.
Gemäß alten deutschrechtlichen Traditionen kam der lokalen
Selbstverwaltung stets eine erhebliche Bedeutung zu. Schweden ist heute in 24
Provinzen (Län) und ca. 28o Großgemeinden mit Selbstverwaltungsrechten
gegliedert, welche u. a. wesentliche Funktionen im Bereich des Bildungs-,
Gesundheits- und Sozialwesens wahrnehmen. Die Gemeindeautonomie mit eigenen
Besteuerungsrechten wurde bereits 1862 auf gesetzliche Grundlagen gestellt und
in der Zwischenzeit im Sinne einer modernen, funktionalisierten
Kommunalverwaltung ausgebaut. Die Autonomie der Provinzen ist deutlich geringer
als diejenige der Länder in Deutschland und größer als diejenige der
Regierungspräsidien.
Soziale Bewegungen nahmen schon im 19. Jahrhundert die
Chancen der Liberalisierung wahr. Freikirchliche, gegen den grassierenden
Alkoholismus gerichtete, pazifistische und feministische Bewegungen gewannen
neben der Arbeiterbewegung schon früh an Einfluss und haben die politische
Kultur Schwedens mitgeprägt. Während zwischen den dreißiger und den siebziger
Jahren des 20. Jahrhunderts die Arbeiterbewegung und ihre Themen dominierten,
brachten die achtziger Jahre das Ende der sozialdemokratischen Hegemonie und den
Aufstieg neuer Themen und Bewegungen: Umwelt, Frauen, Alte, Junge, Einwanderer
usw.
Im Vergleich zu anderen Ländern erscheint in Schweden trotz einer
ausgeprägten Staatlichkeit die Differenz von Staat und Gesellschaft gering. Die
gesellschaftlichen Kräfte sind ihrerseits zum großen Teil hoch organisiert und
haben unmittelbaren Einfluss auf den politischen Prozess, und zwar auf dem
doppelten Wege verbandlicher und parteipolitischer Repräsentation.
Die hohe
Konsensfähigkeit der schwedischen Politik hat nicht zuletzt auch
weltanschauliche Gründe. Ideologische Gegensätze — seit dem Ersten Weltkrieg
insbesondere zwischen Liberalismus und Sozialismus – spielen zwar eine nicht
unerhebliche Rolle, aber sie werden überwölbt von einer pragmatischen Politik-
und Gesellschaftsauffassung. Ausgehend von der großen Stockholmer
Architekturausstellung 1930, vorbereitet durch den künstlerischen und
intellektuellen Stil der zwanziger Jahre, konnte sich der Funktionalismus in
Skandinavien zu einer vorherrschenden Stilrichtung entwickeln. Der
Funktionalismus wurde wie alles, was in Skandinavien auf einer Massenbasis
gründete, zu einer Art Volksbewegung, die ihr populäres Alltagskürzel ganz
selbstverständlich gefunden hat. Der an die Zweckrationalität gekoppelte
Funktionalismus ist ein Menschenbild inhärent, dem die Mach- und Lenkbarkeit
irdischer Dinge als Ersatz für die Gefühlswärme sehen.
Dies war die
Voraussetzung für den sozialplanerischen Optimismus, der seit den dreißiger
Jahren vor allem unter dem Einfluss des Sozialwissenschaftler-Ehepaars Alva und
Gunnar Myrdal die schwedische Politik beseelte, und der bis heute das an aktiver
Gestaltung orientierte Politikverständnis in Schweden prägt. Darin kommt
allerdings auch ein geringer Respekt für die absoluten Maßstäbe der
Menschenrechte zum Ausdruck, welcher sich beispielsweise in einer auf
staatlichem Zwang beruhenden Eugenik äußert. Manche – und zumal amerikanische –
Autoren werfen dem schwedischen Wohlfahrtsstaat denn auch einen totalitären
Charakter vor. Aber dieser liberale Kampfbegriff trifft die schwedische
Wirklichkeit kaum, die sich weit eher durch eine merkwürdige Mischung zwischen
vormodernem Gemeinschaftsgefühl und fortschrittsfreudigem Wissenschaftsglauben
kennzeichnen lässt.
Bevölkerung |
Sozialstaat | Geschichte
|